Die aus den wichtigen Erkenntnissen des Projekts resultierenden Handlungsempfehlungen werden im Kap. 12 Digitale Lehre macht niemand alleine präsentiert. An dieser Stelle werden die zentralen Ergebnisse, welche die ständige Evaluation des Projektes ergeben haben, dargelegt.
Es wurde sehr deutlich, dass die digitale Lehre viele neue Möglichkeiten zur Binnendifferenzierung bietet. Sehr viel Klarheit lässt sich dadurch erzielen, dass die Kontrollfunktion online ausgeprägter ist. Es ist ersichtlich, wie die SuS zu einem Ergebnis kommen und wie viele Anläufe sie dafür gebraucht haben. Es lassen sich also themenspezifische Schwächen von SuS schneller identifizieren und es kann leichter nachvollzogen werden, weshalb diese Probleme bzw. an welcher Stelle sie auftreten. Digitale Lernszenarien erlauben eine große Variation der Lehrangebote. Je nach Lernfortschritt der SuS können Aufgaben differenziert nach Lernstand vergeben werden. Die Aufgaben können also, auch nach Änderung des Lernfortschritts, jederzeit angepasst werden. Individuelle Lernwege sind somit an das Phänomen des „Förderns“ und „Forderns“ anlehnbar. Während der Erprobung der erarbeiteten Lernmaterialien hat sich eine Vorannahme aus der Arbeitsphase der Entwicklung der Lehrmaterialien bestätigt: Gute digitale Lehre im Sinne der Berücksichtigung unterschiedlicher Lernstrategien und –modelle sowie heterogener Wissensbestände der SuS wie auch unterschiedlicher betrieblicher Voraussetzungen bedarf eines Pools an Wissensvorrat und deren didaktischer Umsetzung, den die Lehrenden für die jeweilige Lernsituation einsetzen können und ggf. auch binnendifferenzierend für einzelne SuS zur Verfügung stellen.
Die Frage nach der Steigerung der Chancengleichheit durch digitales Lernen lässt sich nicht final beantworten, dazu bräuchte es eine noch länger andauernde digitale Lehrstruktur: Doch es zeichnet sich ab, dass durch die eben beschriebenen Änderungen, also individuellere Lernmöglichkeiten, schwächere SuS schwerer zu überfordern und stärkere SuS gleichzeitig schwerer zu unterfordern sind. Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass bereits in der konventionellen Lehre viele Möglichkeiten zur Binnendifferenzierung genutzt werden und dass es sich daher nicht um ein komplett neues Phänomen handelt, sondern um die Verbesserung und Erweiterung der Möglichkeiten eine gute Binnendifferenzierung zu gewährleisten.
Gleiches trifft auf die Frage zu, ob digitale Lehre unterstützend bei Inklusion wirken kann. Der anpassbare Zugang zu Wissen ermöglicht auch Menschen mit Einschränkungen, leichter Zugang zu verfügbaren, bisher aber nicht erreichbaren Wissensaneignungsprozessen zu gelangen. Es muss allerdings sichergestellt werden, dass alle SuS die technische Möglichkeit zur Teilnahme besitzen. Es ist also schwer von Inklusion zu sprechen, wenn einem Menschen aus einer sozial schwachen Familie mit Sozialleistungsbezügen zwar die Kosten für Lehrbücher entfallen, ohne eine vernünftige technische Ausstattung wie Laptop etc. aber Partizipation verwehrt wird. Modelle zur staatlichen Förderung dieses Phänomens (Leihtechnik in Schule, Bring your own Device etc.) sind Herausforderung für Schulträger und Politik, die zeitnah bearbeitet und werden müssen.
Die Erstellung des Lehrmaterials erfolgt in zwei Schritten: Zunächst müssen die Loops geschrieben werden, also die textliche Aufgabenstellung und anschließend die Aufgabe selbst definiert werden. Diese Textarbeit übernehmen in der konventionellen Lehre die Autorinnen und Autoren der Verlage von Schullehrbüchern. Während die Aufgaben an sich, auch in diversen Variationen, das tägliche Brot der Lehrkräfte darstellen und routiniert erarbeitet werden konnten, so sind die Loops eine neuartige Herausforderung. Die Lehrbücher sind urheberechtlich geschützt. Daher müssen für digitale Lehre die Ausgangstexte (der Wissensbestand) neu generiert werden. Die Generierung von Texten und Aufgaben ist für Lehrkräfte eine große Herausforderung, da viele Fallstricke für unerfahrene Textersteller lauern und die knappe Ressource Zeit dafür nicht ausreicht. Die Erstellung der Lehrmaterialen, insbesondere der Loops, kostet eine einzelne Lehrperson unglaublich viel Zeit. Selbst mit einer Freistellung, wie sie die am Projekt beteiligten Lehrer erhalten haben, ist diese Autorenarbeit nicht leistbar. Für das hier untersuchte Modellprojekt investierten die beteiligten Lehrer freiwillig erhebliche Mehrzeiten aus ihrer Freizeit und priorisierten zuungunsten anderer schulischer Engagements. Die Erfassung dieser Zeiten und Analyse der dahinterliegenden Arbeitsprozesse ist für die Entwicklung der Handlungsempfehlungen für Prozesse und Modelle zur Erarbeitung von Lehrmaterialien grundlegend: Die vor dem Hintergrund dieser Analysen erarbeiteten Modelle wurden fortlaufend in Werkstattreffen des Projekts diskutiert und entwickelt. Ergebnis ist, dass die Wissensbestände, die man heute in Lehrbüchern findet, digital neu erarbeitet werden müssen, arbeitsteilig und durch Vergabe von Aufträgen an Autorinnen und Autoren, Mediengestaltung und Mediendidaktik. Diese Materialien werden in einem Loop gesammelt, aus dem dann die Lehrer vor dem Hintergrund der Lernsituationen ein konkretes digitale Lernangebot für ihre Gruppe zusammen stellen.
Digitale Lernszenarien stellen diverse Anforderungen an alle Beteiligten. Die beschriebenen Variationsmöglichkeiten in der Lehre erfordern zur Einrichtung und Gestaltung der zu nutzenden Lernplattform und den Aufgaben mediale Kompetenzen und generell auch eine Affinität zu Medien. Das heißt gleichzeitig auch für einige Lehrkräfte, dass neben technischem Hintergrundwissen auch eine Offenheit bestehen muss, sich auf Neues einzulassen und Verantwortung an Auszubildende abgeben zu können. Flexibilität und Zeitmanagement sind in der digitalen Lehre ebenfalls gefragt, wenn eine Webkonferenz mit den SuS ansteht. Das bedeutet wiederum, dass die technische Ausstattung nicht nur in der Einrichtung Schule, sondern auch bei den Lehrkräften und den SuS Zuhause die Voraussetzungen für digitale Lehre erfüllen muss. Die Rolle von Lehrkräften verändert sich in der digitalen Lehre verstärkt hin zu einer beratenden, begleitenden wie auch organisierenden Tätigkeit, welche sehr stark einen motivierenden Charakter einnimmt. Um diesen neuen Anforderungen gerecht zu werden, bedarf es expliziter Personalentwicklungskonzepte und Fortbildungsprogramme, welche unter den Handlungsempfehlungen aufgeführt werden.
Für die SuS wird die neue Form der Selbstverantwortung eine der größten Herausforderung darstellen. Es klingelt nicht zur Stunde, vergehen keine 60 Minuten, welche dann durch erneutes Klingeln beendet werden, sondern diese 60 Minuten müssen von den SuS selbst eingeteilt werden. Das erfordert ein Maß an Disziplin und Organisation, welches einige SuS zum ersten Mal erleben. Es war spannend zu sehen, dass sich die SuS mit diesem Phänomen zum Großteil zurechtfinden, entgegen einiger Erwartungen der Lehrkräfte in der Vorherbefragung und der sehr kritischen Selbsteinschätzung der Gruppe der SuS. In die neue Rolle als Wissensvermittler und die stärkeren gruppendynamischen Arbeiten finden sich die SuS gut ein und werten diese neuen Situationen ausdrücklich als positive Entwicklung. Die von einigen Betrieben und auch Lehrkräften mit Sorge gesehene Möglichkeit, dass sich einzelne Auszubildende durch die digitale Lehre Zuhause sozial isolieren könnten, wurde durch die Erprobung negiert, da die digitalen Gruppenarbeitskontexte und Gruppendynamiken eine solche Entwicklung gar nicht erst zulassen. Auch, weil sich das „Rausziehen“ aus der Mitarbeit und Gruppe digital schwieriger gestaltet als in Präsenz.
Trotz dieser hohen Anforderungen sollte ebenfalls festgehalten werden, dass sich durch die Auseinandersetzung mit digitalen Lehr-Lern-Szenarien ebensolche medialen Kompetenzen auch steigern und erweitern lassen. Und zwar sowohl bei den Lehrkräften als auch bei den SuS und letztendlich in Relation gesehen auch bei den Ausbildungsbetrieben der SuS. Die Digitalisierung führt schon jetzt dazu, dass viele Unternehmen Webkonferenzen oder Online-Fortbildungen für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nutzen. Die SuS so früh wie möglich in medialen Kompetenzen zu fördern, sollte daher ein allgemeines Anliegen des Bildungssektors sein.
Zu konstatieren ist also, dass digitale Lehr-Lern-Szenarien zwar hohe Anforderungen an die technische Ausstattung, persönliche Motivation als auch mediale Kompetenzen von allen Beteiligten stellen, dies aber keine Einbahnstraße ist, da das digitale Lehren und Lernen ebendiese Kompetenzen auch fördert und dem Zeitgeist entsprechende Fähigkeiten ausbildet und erweitert.
Die SuS haben in ihren Fragebögen und den Gruppendiskussionen zu verstehen gegeben, dass sie keine Abendtermine oder Wochenendtermine für digitales Lernen befürworten. Für die digitale Lehre sollen die klassischen Schulzeiten eingehalten werden. Auch die Lehrkräfte votieren gegen außerschulzeitliche Termine. Für beide Gruppen basieren diese Überlegungen auf Abgrenzungen zwischen Arbeit und Freizeit, aber sind auch Ergebnis problematischer Terminfindungsprozesse angesichts vielfältiger Engagements aller Beteiligten.
Die Befunde zu Zeitstrukturen machen deutlich, dass digitale Lehr-Lern-Szenarien mit einer Blockung von Unterrichtsformen einhergehen müssen. Das bedeutet, dass ein ganzer Schultag digitalisiert stattfinden muss, wenn die Bedürfnisse der Lehrkräfte und Auszubildenden berücksichtigt werden. In welchem Wechsel der digitale und konventionelle Unterricht stattfinden soll, hängt von den kooperierenden Schulen, dem Fach bzw. Lernfeld, den Lehrmaterialien und weiteren Faktoren ab. Doch zeichnet sich bisher das Bild ab, dass jede zweite, dritte oder vierte Woche mit digitalen Lernszenarien die gewünschten Effekte erzielen kann, also quasi ein Verhältnis von Präsenz zu Digital mit 2/3/4 : 1, sodass Mobilitätshemmnisse abgebaut werden, der persönliche Kontakt zu den Lehrkräften und anderen Auszubildenden aber dennoch besteht, was von den SuS auch ausdrücklich erwünscht ist. Wie die Vorherbefragung bei den SuS ergeben hat, sind die heimischen technischen Ausstattungen nicht flächendeckend gegeben, sodass es Konzepte geben muss, den Auszubildenden die technischen Mittel für digitale Lernszenarien zur Verfügung zu stellen.
Die Fortbildung aller Lehrkräfte für digitale Lernszenarien ist ein Schlüsselelement bei der Implementierung digitaler Inhalte in den Bildungssektor. Sie kann sich jedoch nur auf die Anwendung der digitalen Lehr-Lerns-Szenarien beziehen. Sicherzustellen ist als Grundlage eine uneingeschränkt funktionierende, verlässliche Infrastruktur digitaler Lehre und deren nachhaltige Wartung und Entwicklung. Über die komplette Projektlaufzeit gab es mal kleinere und mal größere technische Hürden und Komplikationen zu überwinden, welche vorrangig von den Lehrkräften auf Kosten der ohnehin geringen Zeitressourcen kompensiert wurden. Die im Projekt vorhandene IT-Kompetenz der Lehrer ist auf den Schulalltag fächerübergreifend nicht übertragbar. Daher muss eine Institutionalisierung technischer Unterstützung und Problemlösungen bei auftretenden Schwierigkeiten im Unterricht stattfinden. Eine solche Unterstützung kann dezentral organisiert sein und sich im Bedarfsfall auf die betroffenen Rechner zuschalten, muss aber jederzeit verfügbar sein. Detaillierteres zu diesem wichtigen Aspekt der digitalen Lehre in Berufsschulen ist in den Handlungsempfehlungen verschriftlicht.
Schüler und Schülerinnen